Auch das Verlassen der Wohnung durchs Fenster kann ein Wegeunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung darstellen.
Das hat das Bundessozialgericht am 31.08.2017 entschieden (Urteil des 2. Senats vom 31.08.2017, Az. B 2 U 2/16 R).
Im zugrunde liegenden Fall lag die Wohnung des Klägers in einem 2 1/2-stöckigen Mehrfamilienhaus. Das Erdgeschoss war größer als die darüber liegenden Etagen und sprang zu einem Stichweg hin vor. Dieser Vorsprung hatte ein Flachdach, das ca. 2,60 Meter über dem Niveau des Stichwegs lag. Mehrere Fenster der Wohnung im Obergeschoss gingen auf dieses Flachdach hinaus. Die Wohnung des Klägers lag ca. 2,60 Meter oberhalb des Flachdachs, deren Fenster lagen zum Stichweg in einer Schleppgaube im Satteldach. Unterhalb dieses Fensters befanden sich vier Ziegelreihen der Dachschräge mit abschließender Dachrinne.
Als der Kläger am Unfalltag die verriegelte Wohnungstür von innen aufschließen wollte, um zum Betrieb zu gelangen, brach ihm der Haustürschlüssel ab und der Weg durch diese Tür war versperrt, so dass er die Hausaußentür über das Treppenhaus nicht erreichen konnte.
Um nicht zu spät zu kommen, verließ er in Arbeitskleidung mit Overalls und Sicherhheitsschuhen die Dachgeschosswohnung über ein Fenster, um sich auf das Flachdach vor der Obergeschosswohnung herab zu lassen.
Er stürzte jedoch ab, fiel auf das Flachdach und brach sich den rechten Unterschenkel.
Die Blutuntersuchung ergab einen postiven Kokain-Befund. Eine konkrete Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeit im Unfallzeitpunkt ließ sich jedoch nicht feststellen.
Die Beklagte lehnte die Anerkennung eines Wegeunfalls ab.
Die Klage blieb vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht ohne Erfolg.
Zwar seien Fenster einer Außentür, mit deren Durchschreiten der häusliche Bereich verlassen werde und der Unfallversicherungsschutz beginne, grds. gleichzustellen, wenn diese nicht erreichbar oder benutzbar sei. Vorliegend habe der Kläger sich auf dem Weg vom Dachgeschoss zu seinem "Zwischenziel'" Flachdach noch im unversicherten häuslichen Bereich aufgehalten und - anders als beim Durchschreiben der Außentür - den öffentlichen Raum noch nicht erreicht.
Der Kläger rügt mit seiner Revision, dass nach der Rechtsprechung des BSG bereis das Besteigen einer an das Wohnungsfenster gelehnten Leiter auf dem Weg zur Arbeitsstätte als versichert betrachtet worden sei.
Die Revision hatte Erfolg, die Urteile der Vorinstanzen wurden aufgehoben.
Aus dem Tatbestandsmerkmal "unmittelbar" des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII ergibt sich, dass nur das Zurücklegen des direkten Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit unter Versicherungsschutz steht.
Dieser führt beim Kläger grundsätzlich aus dessen Wohnung durch das Treppenhaus des Mehrfamilienhauses zu dessen Außentür und mit deren vollständigem Durchschreiten beginnt der versicherungsrechtlich geschützte Weg.
Ist die Außentür wie vorliegend nicht erreichbar, ist ausnahmsweise auch das Hinaussteigen aus dem Fenster direkter und damit unmittelbarer Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit. Dann ist das Fenster die mit der Außentür vergleichbare Grenze zwischen dem unversicherten häuslichen und dem versicherten öffentlichen Bereich.
Auch der positive Kokain-Befund habe keine konkrete Beeinträchtigung der Wegefähigkeit mit sich gebracht.
Die objektivierte Handlungstendenz des Klägers sei kognitiv allein auf den Weg zur versicherten Tätigkeit und die Fortbewegung auf der Strecke ausgerichtet gewesen. Konkurrierende Beweggründe seien nicht festgestellt worden.
Damit habe sich im Fall des Klägers eine typische Wegegefahr realisiert.
Der Autor ist Fachanwalt für Sozialrecht und mit seiner Kanzlei in Steinfurt ansässig.