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Sonntag, 28. Februar 2010

Theorie und Praxis



In diesen Tagen ist es praktisch unmöglich, sich in den Medien über Politik zu informieren, ohne auf Äußerungen von Politikerinnen und Politikern zu stoßen, die sich mit dem Thema "Hartz 4" beschäftigen.
Nicht selten sind diese Beiträge jedoch gekennzeichnet von maximaler Praxisferne. Viel erschreckender ist dazu, dass vielen Politikern offenbar jede Kenntnis der rechtlichen Grundlagen fehlt, für die sie als demokratisch legitimierte Volksvertreter unmittelbar über die Parlamente mit verantwortlich sind.
Am deutlichsten wird dies, wenn derzeit die Einführung einer Arbeitspflicht für Sozialleistungsempfänger gefordert wird.
Aktuell regelt das SGB II in § 16 d derartige Arbeitsgelegenheiten. Dabei handelt es sich keineswegs um eine neue Vorschrift, sondern lediglich um die Fortführung der bereits seit Jahrzehnten bestehenden "zusätzlichen gemeinnützigen Arbeit", zu der Leistungsempfänger auch nach dem früheren Sozialhilferecht herangezogen werden konnten. Da sie jedoch bis zum In-Kraft-Treten der Hartz-IV-Reform zum 01.05.2005 nur in sehr geringem Umfang von den Sozialämtern den Leistungsempfängern angeboten wurde, war sie in der Öffentlich bis dahin auch kaum bekannt. Mit Einführung des Arbeitslosengeldes II und damit auch der sogenannten "Arbeitsgelegenheiten" mit Mehraufwandsentschädigung stieg nicht nur die Zahl der Arbeitseinsätze, sondern auch die Dauer der Einsatzzeiten deutlich an.
Interessant und von der Politik in der öffentlichen Diskussion völlig außen vorgelassen ist, dass § 16 d SGB II noch vor den Leistungsempfängern die Öffentliche Hand in die Pflicht nimmt. So heißt es als erstes im Gesetzestext wörtlich: "Für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, sollen Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden." Insofern wäre es zunächst einmal interessant zu erfahren, ob derzeit überhaupt genügend solcher Arbeitsgelegenheiten zur Verfügung stehen. Vor dem Hintergrund, dass die Öffentliche Hand die Hilfebedürftigen für die Arbeitsgelegenheiten zu entschädigen hat und dadurch nicht unerhebliche Aufwendungen entstehen (Aufwendungen des Bundes in 2005: etwa 1,1 Mrd. Euro), darf durchaus bezweifelt werden, dass von Seiten des Staates ein ernsthaftes Interesse besteht, solche Arbeitsgelegenheiten zu schaffen.
Ebenso wie der Ruf nach einer Arbeitspflicht erweisen sich Forderungen nach der Neueinführung von Sanktionen als überflüssig, da längst vorhanden.
Kommt ein Leistungsempfänger der ihm zugewiesenen Arbeitsgelegenheit nicht nach, so hat er direkt mit einer Absenkung seines Arbeitslosengeldes II um 30 % unter den Voraussetzungen des § 31 SGB II zu rechnen. Bei der ersten wiederholten Weigerung erfolgt eine Kürzung um 60 % und bei jeder weiteren Pflichtverletzung wird das ALG II um 100 % gemindert. Soweit aus der Praxis bekannt, wird die Regelung des § 31 SGB II auch konsequent und umgehend angewandt. Die derzeit gehäuften Forderungen nach Einführung von Sanktionen deuten daher viel eher auf politische Stimmungsmache als auf qualifizierte Auseinandersetzung mit den bestehenden Möglichkeiten hin.
Dies wird im Übrigen durch einen Praxisbericht bestätigt, der der Online-Ausgabe von N-TV vom 23.02.2010 von Jochen Müter zu entnehmen war und der sich seinerseits auch auf die neuesten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit bezog. Demnach waren 97,5 % aller Hartz-IV-Empfänger ohne jede Sanktion, was nur drei Schlüsse zuläßt: Entweder der Staat kommt seiner Pflicht zur Schaffung von Arbeitsgelegenheiten nicht nach, so dass auch keine entsprechenden Zuweisungen und damit zu sanktonierende Weigerungen folgen, oder die Sanktionen werden nicht konsequent angewendet, was unwahrscheinlich ist, da auf diese Weise erhebliche Aufwendungen durch Leistungskürzungen gespart werden könnten, oder, und dieser Schluss scheint der wahrscheinlichste zu sein, es gibt kein "Heer von Leistungsverweigerern", wie bisweilen durch Politiker angenommen. Schließlich spricht für sich, was Müter von der Berliner Stadtreinigung berichtet. Dort wurden angesichts der winterlichen Witterung kurzfristig 650 Mitarbeiter gesucht, die für 50 € am Tag Schnee räumen sollten.
- Auf diesen Aufruf meldeten sich ca. 25.000 Berliner -